Sind die Gebote Gottes nur eine Empfehlung?

■ Vor einigen Wochen hörte ich einmal im Radio an einem Sonntag einen Herrn, der als “Pfarrer N.” vorgestellt wurde, einige Minuten lang so etwas ähnliches wie “Das Wort zum Sonntag” reden. Er sprach über die Gebote Gottes und meinte, diese seien eigentlich keine wirklichen Gebote, sondern nur Empfehlungen Gottes; wenn wir, Menschen, uns daran halten, werde es bei uns viel besser laufen im zwischenmenschlichen Bereich.
Diese Äußerung ist symptomatisch für das Empfinden vieler unserer Zeitgenossen, leider auch nicht weniger nomineller Christen, sie steht stellvertretend für die Einstellung vieler Menschen in unserer Gesellschaft zu Fragen der Moral und Ethik. Zwar gebe es vielleicht die Gebote Gottes, aber Gott bestehe nicht darauf, dass wir sie unbedingt einhielten - Er gebe nur wohlgemeinte Ratschläge, wie wir unser Leben vielleicht besser meistern könnten. Und gerade darin zeige sich ja die besondere Menschenfreundlichkeit Gottes, dass Er den Menschen ernst nehme und ihm nicht Seinen Willen wie auch immer aufzwingen wolle.
Nun, stellen wir doch die grundsätzliche Frage: wer ist Gott? Neben den Eigenschaften der Ewigkeit, Allmacht, Allwissenheit und Barmherzigkeit gehört zum Wesen Gottes zweifelsohne auch, dass Er heilig ist. Die Heiligkeit Gottes besteht darin, dass Er gut ist und es in Ihm nicht den geringsten Schatten an Schlechtigkeit oder Bosheit gibt. Er ist die Güte schlechthin und meint es natürlich immer nur gut.
Nun haftet aber die Heiligkeit bzw. die Güte Gott nicht wie eine Sache an, die zu Seinem etwa bereits fertigen und vollständigen Wesen dann noch zusätzlich und wie von außen hinzukommen würde. Das Gut-Sein Gottes ist nicht wie ein Sticker oder Werbeaufkleber, der Ihm dann noch zusätzlich aufgetragen wird, um Ihn etwa nach außen hin zu schmücken. Nein, die Heiligkeit Gottes ist unzertrennbar mit Seinem Willen verbunden - Er ist gut und heilig, weil Er gut und heilig will! Wie wir, Menschen, gut oder schlecht sind, weil wir in unserem Willen entsprechend gut oder schlecht eingestellt sind, so besteht auch das Gut-Sein Gottes letztendlich einzig und allen in Seinem Gut-Wollen!
Und dieses Gut-Wollen Gottes ist nicht so zu verstehen, als ob sich Sein vollkommenes Gut-Sein nur auf Ihn selbst bezieht; als ob es Ihn nicht ebenfalls essentiell interessieren würde, wie wir, Menschen, die wir ja von Ihm mit einem freien Willen ausgestattet worden sind, mit unserem freien Willen umgehen; als ob Er letztendlich sogar völlig gleichgültig wäre, ob wir ebenfalls einen guten Willen erwecken oder uns in sittlich-moralischer Hinsicht leider falsch entscheiden und somit böse werden.
Nein, wenn wir die Erkenntnis, dass Gott nämlich sozusagen durch und durch gut ist bzw. gut will, wirklich ernst nehmen, dann lässt sich daraus schlussfolgern, dass Sein sittliches Wollen nur ein restlos konsequentes bzw. Sein Bejahen des Guten nur ausnahmslos allumfassend sein kann - niemand und nichts kann davon grundsätzlich ausgeschlossen werden! Wenn Gott in Seiner sittlichen Vollkommenheit wirklich das sittlich Gute bejaht und somit über jeden Zweifel erhaben will, dann will Er auch, dass alle Wesen mit freiem Willen mit eben diesem ihrem Willen ebenfalls das sittlich Gute restlos konsequent wollen bzw. ausnahmslos allumfassend bejahen!
Denn wenn Gott nicht unbedingt wollte, dass alle das Gute unbedingt wollen und bejahen, würde Er nicht wirklich und ohne irgendeine Ausnahme das Gute wollen! Er wäre dann auch nicht Gott. Denn das Gut-Sein, das Gut-Wollen beinhaltet in sich wesentlich enthalten auch einen kategorischen moralischen Imperativ, ebenfalls unbedingt das Gute zu wollen! Und zwar richtet sich dieses “Du sollst” an jeden freien Willen.
Denn sonst würde sich Gott - natürlich nur hypothetisch gesprochen - zu einer Art Monster verwandeln, welches zwar vielleicht allmächtig und allwissend sei, welchem es aber letzten Ende, wenn es nämlich hart auf hart darauf ankommt, praktisch weitestgehend egal wäre, ob die Menschen nämlich gut oder böse sind, ob sie gut oder böse wollen. Er spreche ja, so jener Pfarrer, lediglich “Empfehlungen” aus und eben keine Gebote, welche für alle Menschen und zu jeder Zeit unbedingte Geltung besitzen würden, welche einzuhalten Er mit allem Nachdruck und dem ganzen Gewicht seines Wesens, Seines Gut-Seins, einfordern würde.
■ Somit stellt die eingangs erwähnte Behauptung jenes Pfarrers in letzter Konsequenz zunächst die Leugnung Gottes als der höchsten moralischen Instanz dar! Denn wenn das Gut-Sein Gottes substanziell nicht auch den moralischen Imperativ an die Adresse der Menschen beinhalten würde - wodurch sich letztendlich ja auch die christlich-katholische Morallehre begründen lässt - alle sollen grundsätzlich, zu jeder Zeit und in jeder Lage ebenso gut wollen, wie Gott gut will -, dann gäbe es auch kein moralisches Gesetz, welches sowohl absolut ist und allgemeine Geltung hat als auch einer jeglichen menschlichen Einflussnahme bzw. Manipulationsmöglichkeit entzogen ist!
Auf diese Weise könnte dann auch nicht mehr davon gesprochen werden, dass Gott die Liebe ist bzw. zur Liebe fähig ist! Denn “Liebe” im christlichen Sinne des Wortes bedeutet die unbedingte Bejahung eines sittlichen Wertes bzw. das willensmäßig selbstlose und uneigennützige Festhalten an einer Wahrheit, die in Entsprechung zum Gut-Sein Gottes steht - entgegen allen etwaigen äußeren Hindernissen oder inneren Widerständen. Wenn aber Gott den Willen zur Sittlichkeit nicht unbedingt durchgesetzt sehen wollte, wenn es für Ihn relativ unbedeutend wäre, ob wir nun ebenfalls gut bzw. sittlich denken, reden und handeln wollten oder eben nicht, dann würde es Ihm ja auch nicht entscheidend darauf ankommen, ob wir ebenfalls ein gutes, die göttliche Liebe liebendes Herz hätten oder nicht - Er würde an uns kein hinreichendes sittliches Interesse haben, Er würde uns nicht im eigentlichen Sinn des Wortes lieben!
Was würden wir von einem Vater oder einer Mutter halten, welche ihre Kinder etwa folgendermaßen “erziehen” wollten: du darfst zwar anständig mit den anderen Menschen umgehen und die Wahrheit sagen, ja solltest dies zu deinem eigenen Vorteil vielleicht auch tatsächlich tun; aber mein Wunsch ist letztendlich dennoch kein Gebot, keine unbedingte Norm des Handelns für dich - du dürftest auch lügen, die andere betrügen, übers Ohr hauen und schlagen, wenn dir danach sein sollte? Ich denke, in jeder wirklich zivilisierten Gesellschaft wird solchen Eltern wohl irgendwann auch die Erziehungsberechtigung entzogen werden, weil sie ja ihre Kinder nicht mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften zum Guten anleiten, sondern ihnen auch das sittliche Recht zubilligen, sich etwa unanständig, frech und böse zu benehmen.
Gott aber wird von jenem Pfarrer und allen, die seinem Gedankengut zustimmen, zu einem solchen Ungeheuer gemacht, welches den Menschen keine letztendlich allgemeinverbindliche Norm des Handelns in die Hand gibt, sondern ihnen auch von sich aus die Berechtigung zubilligt, unsittlich und böse zu wollen und zu handeln!
■ Wenn aber Gott als die höchste moralische Instanz wegfällt, wenn es für uns, Menschen, kein allgemein verbindliches sittliches Gesetz mehr gibt, auf welches wir verpflichtet wären, dann könne ja jeder einzelne Mensch selbst bestimmen, was für ihn “sittlich”, was für ihn “moralisch” ist. Dann ist Tür und Tor der Willkür der (sittlich gebrechlichen und zur Sünde neigenden) menschlichen Freiheit geöffnet! Niemand könne dann einem mit einer letztendlich doch berechtigten Autorität vorschreiben, wie er sich verhalten solle. Denn wenn schon nicht einmal der ewige Gott mit letzter Konsequenz die Einhaltung Seiner Gebote einfordere, wie kann sich dann irgendein sterblicher und sittlich schwacher Mensch dazu erdreisten. Jeder einzelne Mensch habe dann halt das Recht zu bestimmen, was für ihn richtig und was falsch, was für ihn gut und was böse ist!
Dann darf man sich auch nicht wundern, dass Menschen in einer so genannten Demokratie per Mehrheitsentscheidung des Parlaments die Entscheidung treffen, die Tötung ungeborenen Lebens, die Abtreibung, sei legitim und somit völlig in Ordnung. Und man handele dann angeblich gesetzeswidrig und verhalte sich sogar “unmoralisch”, wenn man die Abtreibung als solche öffentlich als Mord anprangert! Der Mensch bzw. die Mehrheit der Stimmen in einer Demokratie wolle halt so - man habe sich dem gefälligst zu beugen.
Und wenn uns behinderte Kinder nicht in die Landschaft passen, dann “dürfen” sie halt infolge der Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik einfach aussortiert und auf die Müllhalde geworfen werden - alles “moralisch”, wenn halt die Mehrheit im Bundestag seine Einwilligung dazu gibt! Der in Deutschland zu diesem Thema einberufene “Ethikrat” ist da nur eine Parodie auf eine moralische Instanz. Auch Euthanasie und Drogenkonsum stehen z.B. im Angebot - manche Länder greifen bereits ganz “legal” darauf zurück. Und was erwartet uns da noch so alles in der Zukunft?
Man beachte doch in diesem gesamten Zusammenhang bitte auch den folgenden extrem wichtigen Umstand. Wenn Gott in Seinen sittlichen Regeln keine eigentliche Gebote sehen möchte, sondern nur wohlgemeinte Empfehlungen, dann könne Er nicht nur niemand darauf verpflichten, sondern müsse sich in jedem Fall auch hüten, irgend jemand für das Nichteinhalten dieser Regeln wie auch immer zu bestrafen! Denn niemand dürfe für etwas, was in Seinen Augen nicht im eigentlichen Sinn des Wortes unmoralisch sei, irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden!
Der betreffende Pfarrer behauptet, wenn wir die Empfehlung der Gebote Gottes beherzigen, werde das zwischenmenschliche Auskommen untereinander besser funktionieren. Nun, wenn aber jemand nicht daran interessiert sein sollte, sich mit seinem Nachbar besser zu verstehen? Was ist, wenn ihm seine eigenen “Moralvorstellungen” erlauben sollten, die Mitmenschen zu belügen, mit Fußen zu treten oder sogar zu vernichten? Strenggenommen dürfte sich dann auch kein anderer Mensch anmaßen, ihm irgend eine verbindlichen moralische Schranke aufzuerlegen oder auch zu bestrafen. Sei doch jeder für sich selbst die letzte moralische Instanz!
Warum regen wir uns denn dann so z.B. über die Verbrechen eines Lenin, Stalin, Hitler, Pol Pot oder wie sie auch immer heißen auf? Wie könnten wir denn so “frech” sein, diese Herren mit höchstem Unmut moralisch an den Pranger zu stellen, wenn selbst Gott bei den Sätzen: “Du sollst nicht töten”, “Du sollst nicht ehebrechen”, “Du sollst nicht stehlen”, “Du sollst kein falsches Zeugnis wider deinen Nächsten ablegen” lediglich “Empfehlungen” abgebe bzw. Ratschläge formuliere?
■ Natürlich würde jeder normal denkende Mensch mit Ekel erfüllt werden, wollte man solche Gestalten wie auch immer ent-schuld-igen und aus jeder moralischen Verantwortung herausnehmen. Aber dennoch ist die vorhin gestellte Frage bezüglich Hitler, Stalin usw. eine notwendige Folge der in jener Radiosendung geäußerten moraltheologischen Behauptung. Sicherlich wollte jener Herr wohl nicht sämtliche Verbrechen der Menschheitsgeschichte verharmlosen oder erreichen, dass in unserer Gesellschaft in moralischer Hinsicht eine komplette Anarchie ausbricht. Nur sollte man unbedingt vorher nachdenken, welche Konsequenzen sich aus den eigenen aufgestellten Behauptungen ergeben, welche bedenkliche, ja höchst gefährliche Sprengkraft sie in sich enthalten!
Zwar wollte er offensichtlich “nur” das Gewissen vieler unserer Zeitgenossen im Hinblick auf “normale” “Kleinigkeiten” beruhigen: sich mal aufzuregen, von Zeit zu Zeit ein Schimpf- oder Fluchwort im Ärger auszusprechen, sich gelegentlich eine Zwecklüge zu “gestatten”, es in Gedanken nicht immer so ganz genau mit der ehelichen Treue zu nehmen, wenn man sich angeblich nicht wehren “könne”, in eine außereheliche Affäre einzuwilligen, den vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr nicht so tragisch zu nehmen... Nach dem Motto halt: liebe Leute, regt euch nur nicht auf, Gott wolle ja gar nicht, dass wir Seine Gebote einhalten, Er spreche da nur Empfehlungen aus; wenn ihr euch nicht daran haltet, regt euch nur nicht zu sehr auf und redet euch auf keinen Fall ein, ihr könntet dafür von Gott irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden; lasst euch nur nicht die Freude am Leben nehmen...
Aber indem er wohl auf eine solche oder ähnliche Weise “argumentieren” wollte und somit den Leuten unverschämt einfach nach dem Mund redet, lässt er eine Lawine der Unmoral und Sittenlosigkeit los, die auch er dann weder steuern noch aufhalten kann. Wie ein kleines Streichholz ein gewaltiges Feuer entfachen und einen ganzen Wald niederbrennen kann, so kann auch ein unüberlegt und unbedacht dahin geschwatztes Wort - um etwa bei den Menschen “sympathisch” zu erscheinen - eine sittliche Katastrophe auslösen und dadurch viele Leben ruinieren! Da sieht man übrigens, welche Folgen eine Irrlehre, der Unglaube oder Aberglaube haben kann...
■ Außerdem erscheint der Mensch nach der Weltanschauung jenes Pfarrers ohne einen hinreichenden Bezug zum Himmlischen, Übernatürlichen, Überzeitlichen, Ewigen, Heiligen! Die “Empfehlungen” Gottes dienten ja nach seiner Auffassung lediglich dazu, auf der so genannter horizontalen Ebene den zwischenmenschlichen Bereich besser zu ordnen. Ein irgendwie gearteter Bezug nach oben ist da nicht zu erkennen. Gott ist hier nur eine Art Sozialmanager, dem ja hauptsächlich und vordergründig daran gelegen sei, dass die Menschen hier auf Erden besser miteinander auskommen. Dass aber der Mensch wesentlich eine moralische Komponente in sich trägt bzw. auf Gott hin geöffnet ist und letztendlich in Ihm seine Bestimmung bzw. Erfüllung findet, kommt bei dieser Weltanschauung durch nichts zu Vorschein.
Jesus setzt dagegen eindeutig ganz andere Prioritäten, auf die wir unser Augenmerk richten sollten. Denn im Hinblick auf die Sorge um die täglichen Dinge, schärft Er uns im Evangelium ein: “Euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr dies alles nötig habt. Sucht vielmehr zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugegeben werden” (Mt 6,32f). Also sollen wir uns vordergründig um die Erlangung einer höheren, der göttlichen Gerechtigkeit kümmern, damit wir dem tieferen Sinn unseres Dasein auf die Spur kommen, damit unser Leben die eigentliche, die übernatürliche Ordnung findet!
Und dieses Reich Gottes bzw. dessen Gerechtigkeit kann man nur mittels der Anpassung unseres freien menschlichen Willens an das Gut-Sein, an das Gut-Wollen Gottes finden! Wie ein Radio- oder Fernsehsender sein Programm auf einer bestimmten Frequenz sendet und das Empfängergerät zum Zweck des Empfangs des betreffenden Programms unbedingt auf die entsprechende Frequenz des Senders eingestellt werden muss, so “sendet” Gott Sein “Programm” der heilsrelevanten Mitteilung an uns, der christlichen Offenbarung in Jesus Christus, auf der “Frequenz” Seines Gut-Wollens. Und nur dann, wenn wir das “Empfängergerät” unseres Willens auf denselben Willen Gottes “einstellen”, wenn wir mit unserem Willen den heiligen Willen Gottes bejahen und wenn unser moralisches “Wollen” dem göttlichen “Wollen” entspricht, werden die alles erleuchtenden Strahlen Seiner Heiligkeit und sittlichen Vollkommenheit unser Herz berühren und erfüllen! Mit anderen Worten können wir Gott nur finden und einen wirklichen und uns zutiefst beseligenden Anteil an Seinem ewigen göttlichen Leben gewinnen, wenn wir Seinen heiligen Willen erkennen und eben diese Gebote mit aller Aufrichtigkeit unseres Wesens erfüllen. So heißt es ja auch bezeichnenderweise aus dem Mund Jesu: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüt. Das ist das größte und erste Gebot” (Mt 22,37)!

P. Eugen Rissling

 

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